„Grzimek war der größte Feind der Massai“

BeitragParlamentarische Initiativen

Globale Gerechtigkeit

150.000 Menschen sind in Tansania von Vertreibungen bedroht

Betrachtet man eine Boma, also eine kleine Siedlung der Massai aus der Ferne, hat man das Gefühl, die Zeit ist hier stehenglieben. Noch immer werden die kleinen, runden Lehmhäuser von den Frauen der Familie erbaut, noch immer wird eine Boma von einem Zaun aus Hölzern und giftigen Pflanzen umgeben, der vor Wildtieren schützen soll. Hühner flattern umher. Das ist hier in Ngorongoro so, ein Gebiet im Norden Tansanias, an der Grenze zum Serengeti-Nationalpark, in das zahlreiche Massai in den fünfziger Jahren umgesiedelt worden sind, und wahrscheinlich überall dort, wo die Massai bis heute traditionell leben. Doch im Gespräch mit ihnen zeigt sich dass Tradition und Moderne kein Gegensatz sind: wir alle halten ein Mobiltelefon in der Hand – und das Netz mitten im Schutzgebiet ist ausgezeichnet.

Cornelia Möhring im Gespräch mit Vertretern der Massai

Das Ngorongoro-Schutzgebiet, genauer gesagt die National Conservation Area (NCA), ist ein etwa 8.100 qm großes Gebiet, das durch seinen Krater weltberühmt ist. Innerhalb des Kraters finden sich zahlreiche Tierarten, unter ihnen auch die Big Five: Elefanten, Büffel, Nashörner, Leoparden und Löwen. Sie werden jährlich von Tausenden Touristen bewundert. Tourismus ist mit Abstand der wichtigste Wirtschaftsfaktor in Tansania. Nach Wunsch der neuen Regierung unter der ersten weiblichen Premierministerin Samia Suluhu Hassan soll das auch so bleiben. Denn im Gegensatz zu den Massai, die aus den neuen „Kerngebieten“ vertrieben werden sollen, darf dort Tourismus weiterhin stattfinden. Schon jetzt bevölkern zahlreiche Jeep-Safaris das eigentlich unter Naturschutz stehende Gebiet. Sie brettern durch den Krater, immer auf der Suche nach dem nächsten Schnappschuss. Dabei stehen ihnen die Massai nicht im Wege, denn diese dürfen den Krater mit ihren Tierherden – die Massai leben von ihren Rinderherden, die die Männer von einer Weidestelle zur nächsten führen – schon lange nicht mehr betreten. Schlecht fürs Vieh, denn neben zahlreichen Süßwasserstellen befindet sich in der Mitte des Kraters ein Salzwassersee, der den Tieren das notwendige Salz liefert. Trotzdem haben sich die etwa 110.000 Massai mit dem Betretungsverbot arrangiert, bietet Ngorongoro doch genügend Platz auch außerhalb des Kraters – dachten sie bis Anfang vorletzten Jahres.

Anfang 2021 hat die Regierung den „Multiple Land Use Management“ verkündet. Der Plan besagt, dass nur noch auf 18 Prozent der bisherigen Fläche Menschen und Vieh erlaubt sein sollen. Umgekehrt heißt das, dass 82 Prozent des Landes nicht mehr für die Massai zugänglich sein sollen. Hintergrund ist, dass im März 2019 eine gemeinsame Überwachungsmission des UNESCO-Welterbezentrums (WHC), der International Union for the Conservation of Nature (IUCN) und des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) Maßnahmen zur dringenden Kontrolle des Bevölkerungswachstums in der NCA angemahnt hatten. Weil jetzt also angeblich zu viele Menschen in Ngorongoro leben, soll ihr Lebensraum um über 80 Prozent eingeschränkt werden. Verzwickte Logik.

Um diesen Plan umzusetzen, sollen allein in Ngorongoro 90.000 Menschen umgesiedelt werden, in andere Gebiete Tansanias, was dort zu neuen Landverteilungskonflikten führt. Dafür bietet die Regierung den Massai Geld an, was laut Ministerium auch schon von 500 Familien angenommen wurde. Doch die Regierung belässt es nicht bei diesem Angebot. Um den Druck zu erhöhen, denkt sie sich immer neue Repressionen gegen die Bevölkerung aus: der Zuschuss für die Schulen wurde gestrichen, so dass es zwar noch die Gebäude gibt, die aber leer stehen. Die Kinder müssen auf dem Fußboden sitzen, wenn Unterricht stattfindet. Der Schulbus dorthin fährt nicht mehr; die Kinder sind gezwungen zu Fuß zu laufen, was hier im Ngorongoro nicht ungefährlich ist. Wasserleitungen werden zurückgebaut, so dass die Frauen, die traditionell fürs Wasserholen zuständig sind, längere und gefährliche Wege zurücklegen müssen, um ihre Familie versorgen zu können. Letztes Jahr wurden Salzstöcke für das Vieh vergiftet, so dass Hunderte Rinder starben und die Ernährungsunsicherheit deutlich anstieg. Doch das schlimmste ist, dass das lokale Krankenhaus quasi geschlossen wurde. Nur noch zwei Personen halten die Versorgung für eine Bevölkerung von 100.000 Menschen aufrecht. Der Flying Medical Service, der 39 Jahre lang den Menschen in den abgelegenen Gebieten geholfen hat, darf seit April 2022 nicht mehr fliegen. Die Versorgungslage ist dramatisch, insbesondere für schwangere Frauen und Kinder, wie uns eindringlich von einer Gruppe von Massai-Frauen geschildert wurde, die wir in der nächst größeren Stadt Arusha zum Gespräch getroffen hatten. Das Treffen hat an einem geheimen Ort stattgefunden, Fotos dürfen wir nicht veröffentlichen. So groß ist die Angst der Frauen vor staatlicher Repression.

„Serengeti darf nicht sterben“

Keine ärztliche Versorgung, keine Bildung, kaum noch Infrastruktur, Nahrungsmittelknappheit – mit diesen Menschenrechtsverletzungen soll Ngorongoro vor den Menschen geschützt werden, die dort seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur leben. Dabei scheint sich die Geschichte zu wiederholen, die maßgeblich von Deutschland unterstützt wurde und wird und bis heute unser Bild von Afrika prägt: „Serengeti darf nicht sterben“ – unter diesem Motto hat Bernhard Grzimek in den fünfziger Jahren den Aufbau des Serengeti-Nationalparks forciert. Tiere rein, Menschen raus – viele der Massai, die heute in Ngorongoro leben wurden damals umgesiedelt mit dem Versprechen, an dem neuen Ort in Ruhe gelassen zu werden. Grzimek mit seinem sogenannten „Festungsnaturschutz“ prägte das Bild einer angeblich unberührten Natur – die es jedoch nur in seiner Illusion je gegeben hat. Denn wie in der Serengeti die Massai, so lebten und leben überall Menschen, die trotz ihrer Viehhaltung oder ihrer kleinteiligen Landwirtschaft durch ihre angepasste Lebensweise zum Erhalt der Natur beitragen, statt sie zu zerstören. Das im Dezember 2022 in Montréal verhandelte Biodiversitätsabkommen trägt diesem Gedanken Rechnung. Denn obwohl das Abkommen verlangt, dass 30 Prozent der Erd- und Wasserfläche unter Naturschutz gestellt werden sollen – was für viele Menschenrechtsorganisationen nach wie vor eine sehr problematische Zahl ist – wurden die Rechte Indigener ausdrücklich gestärkt: Sämtliche Maßnahmen sollen im Einklang mit der „Anerkennung und Achtung der Rechte indigener Völker und lokaler Gemeinschaften, einschließlich der Rechte an ihren traditionellen Gebieten“ stehen.

In Tansania ist man von dieser Achtung indigener Rechte sehr weit entfernt, was wohl auch daran liegt, dass die tansanische Regierung die Existenz indigener Gruppen negiert. Die Massai in Ngorongoro wurden nie konsultiert, von Zustimmung ganz zu Schweigen. Doch ihre Vertreibung schreitet täglich voran, nicht nur hier, sondern auch in Loliondo, einem weiteren von Massai bevölkerten Schutzgebiet in Tansania, wo es im letzten Jahr zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen ist bei dem auch ein Ranger ums Leben gekommen ist. Schon 2009 und 2013 sollten Massai aus Loliondo vertrieben werden, hunderte Bomas wurden damals niedergebrannt. Die Regierung behauptete damals wie heute, dass das Land als Korridor zur Wanderung des Wildes zwischen dem Serengeti-Nationalpark und Maasai Mara-Nationalpark in Kenia notwendig sei. Doch Hintergrund ist vielmehr, dass die Ortello Business Corporation, ein Safari-Jagdunternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, das seit 1992 Land in Loliondo gepachtet hat, mehr Platz für ihre Großwildjagd benötigt. Die Verpachtung des Landes ist nur möglich, weil bis heute Landrechte in Tansania nicht eindeutig geklärt sind. Die Massai bevölkern zwar seit Jahrhunderten die Gegend, haben aber – als Halbnomaden – nie Landtitel erworben. Das soll sich nun ändern, geht es nach dem Willen von Edward Loure und der NGO Ujamaa Community Resource. Sie haben einen Mechanismus entwickelt, der Zertifikate für Besitz auf Basis von Gewohnheitsrecht (Certificates of Customary Right of Occupancy) möglich machen. Anstatt Landrechte an einzelne zu übertragen, werden diese einer ganzen Gemeinschaft übertragen. Für diese Idee erhielt Loure 2016 den Goldman-Preis, eine Art Nobelpreis für den Naturschutz – und 1,2 Millionen Hektar Land konnten seitdem im Norden Tansanias gesichert werden.

Blick auf den Krater in Ngorongoro, Tansania

Doch noch reichen die Anstrengungen von Ujamaa nicht aus. Für die Regierung in Tansania ist weiterhin das Ziel, Tourismus und Jagdgebiete auszuweiten. Da stören die Massai nur, denn sie bringen dem Staat keine Einnahmen. Um ihre Vertreibungen zu rechtfertigen, wird gerne mit mehr Naturschutz argumentiert. Mit diesem Argument kann sich die tansanische Regierung auch der weiteren Unterstützung von Geldgebern wie aus Deutschland sicher sein. Eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Cornelia Möhring hat aufgezeigt, dass Deutschland jährlich 83,5 Millionen Euro in Schutzgebiete seiner ehemaligen Kolonie investiert. Die Unterstützung aus Deutschland für Naturschutzgebiete hat eine lange Tradition: Bereits 1891 wurden durch die Deutschen die ersten Wildschutzgebiete durch das erste Wildtierschutzgesetz eingeführt. Heute erhält die Nationalparkbehörde TANAPA einen Teil der Gelder. Über TANAPA liegen Berichte vor, dass sie bereits vor Jahren an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein soll. Doch die Bundesregierung gibt sich unwissend – wie eine weitere Nachfrage Cornelia Möhrings aufzeigt – und unterstützt die tansanische Regierung weiter. Weitere Zuwendungen für den Naturschutz in Tansania fließen auch an eine deutsche Organisation: die Zoologische Gesellschaft Frankfurt (ZGF), einst gegründet von Bernhard Grzimek. Früher brachte der Frankfurter Zoo wilde Tiere nach Deutschland, nun sorgt die ZGF dafür, dass die wilden Tiere in Ruhe gelassen werden. Dafür unterstützt die ZGF auch gerne das Handeln der tansanischen Regierung. „Serengeti darf nicht sterben“ – für diesen Grundsatz wird bis heute Naturschutz vor Menschenrechte gestellt – auch mit deutschen Steuergeldern.

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